In unserer informationsüberfluteten, zunehmend digitalisierten Welt stehen viele Menschen vor einer unsichtbaren Hürde: Ihnen fällt das Lesen und Schreiben schwer. Die LEO-Studie der Universität Hamburg von 2018 legte offen, dass in Deutschland rund 6,2 Millionen deutschsprachige Erwachsene gering literalisiert sind, also nicht ausreichend gut lesen und schreiben können. Doch der Weg aus dieser Situation ist nicht versperrt. Innovative und individuelle Beratungs- und Lern-Angebote eröffnen neue Möglichkeiten und Chancen.

Uwe Scheele (57) trug fünfzig Jahre lang die Last von Lese- und Schreibschwierigkeiten. In einer Klasse mit 40 Schülerinnen und Schülern blieb er unbeachtet und ohne Schulabschluss. In einer Familie mit zehn Geschwistern war wenig Raum für individuelle Förderung.

Sein Alltag war und ist geprägt von kaum zu überwindenden Herausforderungen: Fahrpläne, Formulare, Fragebögen, Briefe, Bücher, Plakate – all diese Dinge waren für ihn eine Barriere. Doch er fand Wege, nicht aufzufallen, und behielt seine Schwierigkeiten im Verborgenen. „Manchmal braucht man schauspielerische Fähigkeiten, um zurechtzukommen“, erklärt er. Die Hilfe von Freunden und Angehörigen wurde für ihn zum unverzichtbaren Anker im Alltag. Sein gutes Gedächtnis half ihm, schriftliche Notizen zu kompensieren. Doch das wollte Uwe Scheele irgendwann nicht mehr. Das größte Hindernis für Veränderungen war es, seine Schwierigkeiten zu offenbaren. Denn die Angst vor dem Urteil anderer führte zu Panik: „Was sagen die anderen über dich? Stempeln sie dich als dumm ab?“ Glücklicherweise traf er auf Menschen, die ihn verstanden und unterstützten, darunter auch sein Vorgesetzter bei der Stadtreinigung Hamburg.

Mit 51 Jahren entschied Uwe Scheele, aktiv gegen seine Lese- und Schreibschwierigkeiten anzugehen. Bei der KOM gGmbH absolvierte er einen Intensivkurs, täglich fünf Stunden über drei Monate hinweg. Um seine Fähigkeiten zu erhalten und zu erweitern besuchte er anschließend Abendkurse an der Hamburger Volkshochschule. Unterstützung fand er zudem in der Grundbildungs-Beratung von Neu Start Arbeit.

Uwe Scheele hat sich nicht nur entschlossen, seine eigene Lebenssituation zu verbessern, sondern auch zu einer Stimme für diejenigen zu werden, die ähnliche Herausforderungen teilen. Er ist als Botschafter für Lesen und Schreiben aktiv, ist Ansprechpartner für Betroffene, gibt Interviews und unterstützt Neu Start Arbeit bei Veranstaltungen. Er vermittelt nicht nur die Herausforderungen, sondern vor allem den Weg zur Welt der Worte. Sein persönliches Engagement macht das Problem greifbar und zeigt, dass Veränderung möglich ist.

Neu Start Arbeit

Ein Netz spannen

Stellenanzeigen lesen, Bewerbungen schreiben, To Do-Listen per Tablet: Die schriftsprachlichen Anforderungen am Arbeitsmarkt steigen – auch an sogenannten Einfacharbeitsplätzen. Doch mehr als sechs Millionen deutschsprachige Erwachsene in Deutschland sind gering literalisiert – können also nicht gut lesen und schreiben. Für sie stellen diese Anforderungen eine große Hürde dar. Hier setzt Neu Start Arbeit, ein Kooperationsprojekt der hamburger arbeit und KOM gGmbH, an. Wir entwickeln und erproben arbeitsorientierte Grundbildungs-Angebote für arbeitslose und von Arbeitslosigkeit bedrohte Menschen, die besser lesen und schreiben lernen möchten.

Menschen ohne ausreichende Lese- und Schreibkompetenzen sind überdurchschnittlich häufig von Arbeitslosigkeit betroffen. Zudem profitieren sie von Maßnahmen der beruflichen Eingliederung oft nicht oder nur sehr eingeschränkt. Wir arbeiten mit einem vielfältigen Netzwerk zusammenarbeiten, um diese Menschen bedarfsgerecht zu beraten, zu unterstützen und für die Jobsuche zu stärken. Akteure der aktuellen und zukünftigen Zusammenarbeit im Netzwerk sind die zuständigen Abteilungen in den Hamburger Behörden, die Jugendberufsagenturen, Arbeitsagentur und Jobcenter, aber auch Kammern, Sozialverbände, Bildungsträger, Initiativen und Branchenverbände.

Die Herausforderungen von Lese- und Schreibschwierigkeiten bei Erwachsenen sind oft unsichtbar. Hier setzt die aufsuchende Netzwerkarbeit an, um diese Unsichtbarkeit zu durchbrechen. Sensibilisierungsgespräche spielen eine Schlüsselrolle dabei, das Bewusstsein für dieses Thema zu schärfen. Durch gezielte Gespräche wird das Problem von Lese- und Schreibschwierigkeiten bei Erwachsenen aus der Anonymität geholt und rückt in den Blickpunkt der Öffentlichkeit.

Die Verbreitung von Informationen erfolgt auf verschiedenen Ebenen. Öffentlichkeitsmaterialien werden gezielt verteilt, und Plakate finden ihren Platz in Supermärkten, Apotheken und Gemeindetreffpunkten im Stadtteil. Diese sichtbaren Hinweise sind nicht nur darauf ausgerichtet, diejenigen anzusprechen, die direkt betroffen sind, sondern auch das mitwissende Umfeld zu erreichen. Die Strategie ist einfach, aber effektiv: Informationen sollen da sein, wo Menschen sie im Alltag konsumieren.

Die Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben zu ignorieren, hilft den Betroffenen nicht. Besser ist es, Mut zu machen, über das Thema zu informieren, Hilfs-Angebote aufzuzeigen und Ansprechpersonen zu nennen. Dafür bietet Neu Start Arbeit folgende kostenlose Angebote:

➽ Mobile Grundbildungs-Beratung: In der Beratung arbeitet Neu Start Arbeit Hand in Hand mit der hamburger arbeit. Unsere Kolleginnen sind mobil und aufsuchend unterwegs und beraten in ganz Hamburg. Dabei orientieren sie sich an den Bedürfnissen der Klient:innen und arbeiten zieloffen, transparent und niedrigschwellig. In der Beratung gibt es Raum, über Probleme zu sprechen, Ziele und Bedarfe zu klären und nach Handlungsoptionen zu suchen. Auf Wunsch führen wir auch die Diagnostik durch, ermitteln also vorhandene Lese- und Schreibkompetenzen und überlegen gemeinsam, wie das Lernen beginnen kann. Anschließend beraten wir zu passenden Kurs-Formaten und begleiten in das Lern-Angebot.

➽ Ein innovatives, erfolgreich erprobtes Intensiv-Lernangebot, für Arbeitsuchende, die besser lesen und schreiben lernen möchten. Einzelunterricht in der Anfangsphase, Lerncoaching und -begleitung, sowie das Lernen in sehr kleinen Gruppen zeichnen das Angebot aus. Neben dem Lesen und Schreiben werden auch die digitalen Grund-Kompetenzen sowie das Lernen lernen gefördert. Projekttage und Beratungsangebote in Zusammenarbeit mit unseren Kooperationspartner:innen zu den Themen Arbeit, Gesundheit, Finanzen und Soziales runden das Angebot ab.

➽ Sensibilisierungs-Workshops für Behörden, Institutionen, Einrichtungen der Sozialen Arbeit sowie Bildungsträger, die helfen, die Anzeichen und Auswirkungen einer unzureichenden Schreib- und Lesekompetenz zu verstehen. Es werden effektive Handlungsstrategien für den Umgang mit Menschen entwickelt, die Lese- und Schreibprobleme haben. Durch die Schulung von Fachleuten und Interessengruppen, Kursanbietern und Lehrenden in Ausbildung und Studium werden diese sensitiver für die subtilen Zeichen geringer Literalität, wie beispielsweise auffällige Vermeidungsstrategien von Schreib- und Leseanlässen, ungewöhnliche Schreibstile, Schwierigkeiten beim Verständnis von Texten oder geringes Selbstvertrauen im schriftlichen Ausdruck.